Unser System lebt von Menschen, die sich einsetzen und aussetzen

Letzte Woche, abends im Bus. Pro und Contrawerbung zur Selbstbestimmungsinitative läuft am Bildschirm. Plötzlich hinter mir, sagt eine junge männliche Stimme, ganz entrüstet „Warum werben die eigentlich mit diesem Argument? Das ist doch ein Argument für das Gegenteil. Saublöd damit zu werben“. Eine andere Stimme: „Nein, nein, das ist schon richtig, die haben vollkommen Recht – die andere Partei verwendet dieses Argument falsch, die hier haben Recht“. Darauf folgt ein Austausch von Sachargumenten, anfänglich ziemlich gesittet, bald immer enervierter.

Einer der jungen Männer hat sich offensichtlich mittels Werbung und Gratiszeitungen über die Vorlage informiert, der Andere stützte sich auf Sachwissen aus der Schule. Ein Muster, das ich sehr gut aus politischen Diskussionen kenne. Meiner Erfahrung nach ist es äusserst schwierig, wenn die Meinungen schon gemacht sind, diese mittels Sachargumenten zu ändern. Meinung schlägt Sachwissen – in der Regel. Bei den jungen Männern im Bus war dies aber anders. Sie einigten sich, wie mit dieser Diskrepanz um zu gehen ist. Nämlich mittels gezielter Recherche und vereinbarten, dass die unterlegene Partei das Ergebnis dieser Recherche akzeptiert. Als ich aus dem Bus ausstieg, waren die Beiden noch an ihrer Recherche. Mich beeindruckte, wie die jungen Männer gemeinsam einen Modus zur Überwindung ihrer Differenz gefunden haben. Auch ihr Alter erstaunte mich. Sie waren jünger, als ich gedacht hätte, kaum 18 Jahre. Ein Alter, in dem ganz Vieles wichtig ist – zu meiner Freude, offenbar auch kommende Abstimmungsvorlagen.

Gemäss der Erhebung des Bundesamts für Statistik engagieren sich nur O,7 Prozent der Frauen und 1,4 Prozent der Männer in der Politik. Dies ist nur noch halb so viel, wie 12 Jahre zuvor. Farbe zu bekennen, sich mit anderen Meinungen auseinander zu setzen und sich an der (politischen) Weiterentwicklung aktiv zu beteiligen, ist alles andere als im Trend.

Wer sich einsetzt, setzt sich aus. Wer sich politisch einbringt, macht sich angreifbar. Aber unser System lebt von Menschen, die nicht einfach in der Komfortzone bleiben, sondern sich für die Gemeinschaft einsetzen. Besonders schwierig ist es Personen zu finden, welche Arbeiten innerhalb der Parteien übernehmen. Besonders anspruchsvoll ist es, Parteipräsidien zu besetzen. Früher gab es noch Kampfwahlen um dieses Amt, heute sieht man mancherorts Co-Präsidien, ad Interim Lösungen oder lediglich noch Ansprechpersonen. Sich am Stammtisch zu beklagen ist einfacher, als selber Verantwortung zu übernehmen, Änderungen anzustossen und Entscheidungen anderer mitzutragen. Die Tatsache, dass man in der Politik keine Entscheidungen in Eigenregie fällen kann, sondern immer nur kleines Zahnrad in einem riesigen Räderwerk ist, scheint nicht immer gut anzukommen. Als Argument sich nicht politisch zu engagieren, wird folglich dann und wann ins Feld geführt „Da kann man sowieso nichts bewirken, die machen sowieso nur was sie wollen“.

Und in der Tat, nicht alles, was am Stammtisch einfach klingt, ist in der Praxis auch umsetzbar. Auch wenn es uns nicht immer genehm ist und wir es mit dem so genannten „gesunden Menschenverstand“ vielleicht anders machen würden, die Regeln, die unsere Schweiz stark gemacht haben, gilt es einzuhalten. Dazu gehört, dass wir den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung achten. Persönlich würde ich zum Beispiel liebend gerne an einer neuralgischen Strassenquerung mit einem Kübel gelber Farbe einen Fussgängerstreifen malen. Aber da ich den Rechtstaat akzeptiere, unterlasse ich dies natürlich. Auch als Politiker kann ich nicht einfach machen, was ich will. Obwohl in unserem System der Einfluss der Einzelnen beschränkt ist, kommt es doch auf jeden Einzelnen an. Der persönliche Einfluss, welcher wir alle nehmen können, ist grösser, als man vielleicht annehmen würde. Schon nur der Austausch von Argumenten, wie dies die eingangs erwähnten Männer im Bus gemacht haben, ist bedeutsam. Durch ihre Auseinandersetzung mit der Vorlage und der daraus wohl resultierenden Stimmabgabe leisten die Beiden einen wichtigen Beitrag zu unserem demokratischen System. Ich hoffe, dass sie Nachahmer finden. Und ich hoffe, dass sie die Freude an der politischen Auseinandersetzung behalten und vielleicht irgendwann mal auch Parteiluft schnuppern werden. Die Türen würden bei allen Parteien weit offen stehen.

Jim Wolanin, Kantonsrat, Neuenkirch